Philipp, auch Ihr bringt Euch in den Erarbeitungsprozess zum Verkehrssicherheitsprogramm ein, das die wesentliche Eckpunkte der nächsten Dekade abstecken soll. Naheliegende Frage an den TÜV-Verband: Geht die Erfolgsgeschichte der technischen Assistenzsystemen weiter?

Ja, absolut.  Fahrerassistenzsysteme bieten ein großes Potenzial für mehr Verkehrssicherheit. Ab 2022 wird nach der „General Safety Regulation“ in jedem neuen Fahrzeugtyp und ab 2024 in jedem neuzugelassenen Fahrzeug eine Grundausstattung an elektronischen und digitalen Assistenzsystemen zur Pflicht. Bislang sind sie aber weder verpflichtender Bestandteil der Fahrausbildung noch der Fahrerlaubnisprüfung. Doch Autofahrer:innen sollten bereits in der Fahrschule gründlich auf den Gebrauch von sicherheitsrelevanten Fahrerassistenzsystemen, wie intelligenten Geschwindigkeitsreglern oder aktiven Spurwechselassistenten, vorbereitet werden und den richtigen Umgang in der Fahrerlaubnisprüfung nachweisen. Dazu gehört es, neben den genauen Funktionsweisen insbesondere auch die Grenzen eines Systems kennenzulernen. Der Umgang mit sicherheitsrelevanten Fahrerassistenzsystemen muss daher obligatorischer Bestandteil von Ausbildung und Prüfung werden! Hier bin ich sehr zuversichtlich. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands unterstreicht dies. Nach Ansicht von 89 Prozent der Befragten sollten Fahrschülerinnen und Fahrschüler den Umgang und die Funktionsweise von Assistenzsystemen im Rahmen der Fahrausbildung erlernen. 63 Prozent fordern, dass die Beherrschung der Systeme auch Bestandteil der Fahrerlaubnisprüfung wird.

Wo liegen die Risiken bei ‚mehr Technik an Bord‘? Und worauf sollten wir bei der Regulierung achten?

Der Regelungsrahmen für automatisiertes und vernetztes Fahren muss menschenzentriert fortgeschrieben werden. Die Hoffnungen in Automatisiertes Fahren sind groß. Doch wir müssen den Menschen auf dem Weg mitnehmen. Aktuell wird verlangt, dass der Mensch als schwächstes Systemglied für die Rückfallebene absolut zuverlässig funktioniert. Das ist wenig realistisch. Anforderungen an die Genehmigung von zukünftig autonom fahrenden Fahrzeugen müssen so standardisiert sein, dass beispielsweise alle im jeweiligen Einsatzgebiet der Fahrzeuge relevanten Objekte sicher erkannt und klassifiziert werden, und dass sie diese bei der Berechnung ihrer eigenen Fahrmanöver berücksichtigen. Für Fahrzeuge, die z. B. im urbanen Umfeld automatisch fahren sollen, bedeutet dies, dass insbesondere Radfahrende und Zufußgehende zweifelsfrei als solche erkannt werden müssen.

Im Digitalausschuss beschäftige ich mich mit der Digitalisierung in Kommunen und den Potenzialen von Datenmengen für die Planung. Ist das auch was für die Verkehrssicherheit?

Entscheidend ist auch hier die Sicherheit. Wir müssen schwächere Verkehrsteilnehmer:innen besser schützen. Fahrradfahrer:innen sind im Straßenverkehr nach wie vor besonders gefährdet. Europaweit kommt jeder zweite getötete Radfahrende bei einer Kollision mit einem Pkw oder Lkw ums Leben. Die häufigste Unfallkonstellation für Radfahrende sind Kollisionen mit Kraftfahrzeugen beim Einbiegen, Kreuzen oder Abbiegen in Städten. Die Standardisierung der Genehmigungsvorschriften von Lkw-Abbiegesystemen für Neufahrzeuge und Nachrüstsysteme sind daher allen realen Lebensbedingungen anzupassen. Fehlfunktionen schaden der Nutzungsakzeptanz dieser Systeme und können im Ernstfall Menschenleben kosten. Die Radinfrastruktur muss vor allem in Innenstädten deutlich und schnell verbessert werden. Straßenverkehr muss so sicher und fehlerverzeihend gestaltet werden, dass schwere oder gar tödliche Unfälle vermieden werden. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl muss befriedigt werden: die meisten Menschen sollen die Radinfrastruktur auch als sicher und komfortabel wahrnehmen. Damit ist verbunden, dass die gesamte Radverkehrsinfrastruktur für alle Altersgruppen sowie Mobilitätszwecke intuitiv nutzbar und attraktiv sein muss.

Deutschland tritt die EU-Ratspräsidentschaft an. Gibt es Vorhaben, die wir aus Sicht der Verkehrssicherheit adressieren müssen?

Ich drehe das mal um. Deutschland sollte sich zu den EU-Zielen zur Verkehrssicherheit bekennen und im neuen Verkehrssicherheitsprogramm festschreiben. Im vergangenen Jahrzehnt sind in Deutschland mehr als 34.000 Menschen im Straßenverkehr tödlich verunglückt, mehr als 600.000 wurden schwer verletzt. Das muss sich in der neuen Dekade ändern. Mit der Strategie der Vision Zero strebt die EU-Kommission an, die Zahl der Verkehrstoten in Europa bis zum Jahr 2050 auf null zu reduzieren. Zudem hat der Europäische Rat den Vorsatz gefasst, bis 2030 die Zahl der Schwerverletzten und Getöteten auf den Straßen der EU im Vergleich zu 2020 zu halbieren. Diese Ziele müssen auch für Deutschland verbindlich sein.